In der Edo-Zeit (1603-1868) gab es ein beliebtes Gesellschaftsspiel namens „Hundert Geschichten“ (Hyaku monogatari), bei dem man sich gegenseitig gruselige Begebenheiten erzählte. Nach jeder erzählten Geschichte wurde ein Licht gelöscht, bis man am Ende bei Dunkelheit mit dem Erscheinen eines Geistes rechnete. Diese Geschichten werden im Japanischen mit dem Begriff 怪談 kaidan bezeichnet, der sich aus den Schriftzeichen für „unheimlich, außergewöhnlich“ (怪 kai) und „Gespräch, Unterhaltung“ (談 dan) zusammensetzt. Die Erzählungen drehten sich zumeist um Liebe, Eifersucht und Mord und führten die Zuhörer in eine übersinnliche Welt, in der Tote als ruhelose Geister in die Welt der Lebenden zurückkehrten.
Kaidan-Darstellungen findet man in der Bildenden Kunst, im Theater und auch in zahlreichen japanischen Kino-Filmen wieder. Viele Filme entstanden in den 1950er und 1960er Jahren, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.
Kaidan 1
雨月物語 UGETSU MONOGATARI (Ugetsu Story)
1953 / 97 Min.
Der auf dem Internationalen Filmfestival von Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnete Film erzählt die Geschichte von Genjurô und Tôbei, die in den Kriegswirren des 16. Jahrhunderts nach Wohlstand und Ansehen streben. Zur Verwirklichung ihrer Ziele ziehen die beiden Männer in die Stadt, müssen aber am Ende der Reise erkennen, dass der Preis ihrer Träume zu hoch war: Tôbei verliert seine Frau Ohama an Entführer und Genjirô erliegt dem Zauber eines Geistes in Gestalt der Dame Wakasa, was ihn schließlich ins Verderben stürzt.
Kaidan 2
地獄門 JIGOKUMON (Gate of Hell)
1953 / 89 Min.
Der Film spielt im ausgehenden 12. Jahrhundert, als die Clans der Genji und Heike um die Herrschaft Japans kämpften, und kontrastiert die Brutalität militärischer Eroberungszüge mit der eleganten Schönheit selbstloser Liebe. Ein angesehener Samurai pocht auf sein Recht, die Frau eines anderen zu bekommen, worauf diese zu einer verhängnisvollen List greift. Der erste Farbfilm von Daiei in Eastmancolor gewann u.a. den Grand Prix in Cannes (1954) und den Academy-Award für das Beste Kostümdesign (1955).
Kaidan 3
亡霊怪猫屋敷 BÔREI KAIBYÔ YASHIKI (Black Cat Mansion)
1958 / 69 Min.
In diesem Klassiker des japanischen Horrorfilms geht es um einen jungen Arzt, der mit seiner gesundheitlich angeschlagenen Frau aufs Land zieht, um dort ihr Lungenleiden zu lindern. Doch schon kurz nach dem Einzug in das neue Heim trachtet ihr eine gespenstische alte Gestalt nach dem Leben und belegt das Haus mit Flüchen. Während die in der heutigen Zeit spielende Rahmenhandlung in Schwarz-Weiß gedreht ist, erstrahlt ein zweiter Handlungsstrang, der in der Vergangenheit spielt und den Ursprung des Fluchs zeigt, in prächtigen Farben.
Kaidan 4
四谷怪談 YOTSUYA KAIDAN (Yotsuya kwaidan)
1959 / 84 Min.
Basierend auf einem Kabuki-Stück aus dem Jahr 1825 zählt Yotsuya kaidan zu den bekanntesten Geistergeschichten Japans und wurde in zahlreichen Versionen für das Kino adaptiert. Oume, die Tochter einer wohlhabenden Feudalfamilie, verliebt sich in den herrenlosen Samurai Iemon (verkörpert von dem damaligen Superstar Hasegawa Kazuo) und verlangt die Heirat. Da Iemon sich aber nicht von seiner Frau Oiwa trennen will, fädelt Oume einen perfiden Mord ein. Der Geist der getöteten Oiwa sinnt fortan auf Rache und Vergeltung.
Kaidan 5
東海道四谷怪談 TÔKAIDÔ YOTSUYA KAIDAN (The Ghost Story of Yotsuya)
1959 / 74 Min.
Der herrenlose Samurai Iemon tötet den Vater seiner Geliebten Oiwa, um sie heiraten zu können. Nach zwei Jahren ist die Liebe abgekühlt und er möchte die reiche Oume ehelichen. Doch zuvor muss Oiwa aus dem Weg geräumt werden, am besten unter dem Vorwand, dass sie Ehebetrug begangen habe. Iemon verabreicht ihr ein Gift, das ihr Gesicht so sehr entstellt, dass sie Selbstmord begeht. Ihr vermeintlicher Liebhaber Takuetsu wird getötet. Zurückgekehrt als Geister üben die beiden Rache an Iemon, der daraufhin dem Wahnsinn verfällt.
Kaidan 6
地獄 JIGOKU
1960 / 101 Min.
Der Student Shirô überfährt bei einer Autotour mit seinem Freund Tamura einen Mann und begeht Fahrerflucht. Von Schuldgefühlen geplagt will er sich stellen, doch das Taxi, in dem er mit seiner Verlobten Yukiko, der Tochter von Professor Yajima, zur Polizei fährt, wird in einen Unfall verwickelt und die junge Frau stirbt. Als Shirô seine kranke Mutter besucht, fühlt er sich zu Sachiko hingezogen, weil sie seiner verstorbenen Geliebten ähnelt. Plötzlich finden sich alle Protagonisten in der Hölle wieder und müssen qualvoll für ihre begangenen Sünden büßen.
Kaidan 7
鬼婆 ONIBABA
1964 / 100 Min.
Onibaba erzählt die Geschichte einer Mutter und ihrer Schwiegertochter, die während des Krieges im 14. Jahrhundert ihr Dasein in einer Schilflandschaft fristen. Um überleben zu können, bringen sie vorbeikommende Samurai um und verkaufen deren Habseligkeiten. Als die Tochter ein Verhältnis mit einem der jungen Männer eingeht, ist das Misstrauen der Mutter geweckt. Zur Abschreckung trägt sie nun die dämonische Maske eines Kriegers, die sich aber schon bald nicht mehr vom Gesicht lösen lässt.
Kaidan 8
怪談 KAIDAN (Kwaidan)
1964 / 182 Min.
In seinem ersten Farbfilm adaptiert Regisseur Kobayashi Masaki vier inhaltlich unzusammenhängende Geistergeschichten, die der berühmte Schriftsteller und Japanliebhaber Lafcadio Hearn (1850-1904) zu Papier gebracht hatte: „Schwarzes Haar“, „Schneefrau“, „Hôichi, der Ohrlose“ und „In einer Teeschale“. Die Episoden zeichnen sich durch eine dichte emotionale Atmosphäre und farbgewaltige Bilder aus. Musikalisch werden sie von Klängen des Komponisten Takemitsu Tôru begleitet.
Kaidan 9
牡丹燈籠 BOTANDÔRÔ (The Bride from Hades)
1968 / 89 Min.
Die ursprünglich chinesische Geistergeschichte Botandôrô („Päonienlaterne“) war im Japan der Edo-Zeit (1603-1868) sehr beliebt. Beim Obon-Fest, bei dem die Seelen der Verstorbenen für kurze Zeit in ihre Heimat zurückkehren, lernt Shinzaburô die junge Otsuyu und ihr Dienstmädchen kennen. Es stellt sich heraus, dass die beiden Frauen Geister sind und ihn verführen, um aus dem Reich der Toten zu entkommen. Doch bevor Shinzaburô die Wahrheit erfährt, verbringt er eine Nacht mit Otsuyu und ist fortan selber vom Tod gezeichnet.
Kaidan 10
怪異談生きてゐる小平次 KAIIDAN IKITEIRU KOHEIJI (The Living Koheiji)
1982 / 78 Min.
Basierend auf der modernen Schauspielfassung eines beliebten Kabuki-Stückes wird die Geschichte von Koheiji erzählt, der im frühen 19. Jahrhundert von Takurô getötet wird, weil er dessen Frau Avancen gemacht hatte. In einem Setting mit unbestimmten Grenzen zwischen den Lebenden und den Toten verfolgt der Geist von Koheiji nun Takurô und treibt ihn in den Tod.